Der Gelbe Joe

In Se Tzu hatte ich weiter nichts zu suchen. Ich wollte dort nur umsteigen -: nach Wo Lang. Der Bus nach Wo Lang war aber schon abgefahren – ich mußte bis zum nächsten Tag bleiben.

Se Tzu liegt am Meer, das sich, so oft die Gezeiten es erlauben, bis zum Horizont zurück zieht. An dem weißen Sandstrand möchte man nicht verweilen, denn der wird von großen Horden streunender Hunde bevölkert. Das Hinterland ist von undurchdringlichem Gestrüpp überwuchert. In Se Tzu, in dem es nichts besonderes für den Vorüberreisenden zu sehen gibt – da gibt es einen Markt; und im Gewimmel eines Marktes sich verlieren, heißt die ätzende Ereignislosigkeit, die jeden einsam Reisenden mitunter überfällt, zu entschärfen.

Ich ging also zu jenem Markt, doch es war gerade der Tag der Himmlischen Nonnen -: der Markt war menschenleer. Da stund nur ein Mann herum zwischen den leeren Tischen, der begrüßte mich, als hätte er auf mich gewartet. Er sagte, er sei der Gelbe Joe und bedeutede mir, ihm zu folgen. Ich erwartete eine Einladung zum Tee, der mir recht gelegen gewesen wäre, denn ich war ganz ausgetrocknet von der heißen Sonne. Wir gingen einige Straßen entlang bis zu einem Hauseingang, über dem eine Tafel mit einem Schriftzeichen angebracht war. Der Mann erklärte mir mit Händen und Füßen (was nicht schwer war), es bedeute Fünffuß – das sei sein eigentlicher Name. Ich weiß nicht was der alberne Name soll – sicher ist es genau so wenig sein wirklicher Name wie Joe – vielleicht der Name seiner Schutz-Gottheit.

Wir traten ein und setzten uns gleich in der kahlen großen Eingangshalle in monumentale, mit braunem Kunststoff bezogene Sessel. Obwohl durch die weit geöffnete Eingangstür genügend Licht hereinkam, um alles was da zu sehen war, sichtbar zu machen, hingen von der Decke zahlreiche Leuchtstoffröhren herab, deren Licht alles in eine grünlich vibrierende Künstlichtkeit tauchte und ein surrendes Geräusch verursachten – wie ein entfernter Bienenschwarm.

Eine Bedienstete, vielleicht auch die Ehefrau oder eine sonstige Angehörige – das war nicht auszumachen – servierte zwei Schalen, die allerdings nicht mit Tee gefüllt waren, sondern mit einer Art rötlich dampfenden Suppe, aus der einzelne dürre Halme oder Insektenbeine ragten. Ich rührte die mir bestimmte Schale nicht an. Der Gelbe Joe rührte die seine ebenfalls nicht an – wohl aus Höflichkeit.

Er redete lange, während ich versuchte durch verschiedene Gesten, wie Heben der Schultern oder der Hände und Verziehen des Mundes und der Stirn, ihm zu zeigen, daß ich nichts verstünde. Er ließ sich aber dadurch nicht beirren. Er faßte meine Gesten wohl als Bestätigung des seinerseits gesagten auf, denn sein Vortrag belebte sich jeweils. Ich schwieg dann und gab durch keine Regung zu erkennen, daß ich ihm Aufmerksamkeit schenkte, und verhielt mich ganz und gar bewegungslos. Der Gelbe Joe redete noch eine Weile zu – dann schwieg auch er.

Wir saßen beide schweigend in den Sesseln, während der rötliche Dampf, von dem grünlichen Leuchtstoffrörhrenlicht beschienen, aus den Schalen aufstieg. Es dampfte immerzu aus den Schalen, obwohl deren Inhalt längst erkaltet gewesen sein sollte – soweit irgend etwas in der heißen Luft von Se Tzu überhaupt erkalten kann – ja, immerhin dampft der Ort nicht sichtbar – im Gegensatz zum Inhalt dieser Schalen. Ich schaute dem Dampf zu, wie er spiralig wabberte, dann höher aufsteigend sich kräuselte, Arabesken formte und verging.

Der Gelbe Joe schaute vor sich hin. Sein Blick schien weder durch mich noch durch sonst etwas im Saal angezogen zu werden. Dieser Blick war aber nicht leer. So wie ich etwas in mich hinein schaute – etwa den rötliche Dampf, so schien er etwas aus sich heraus zu schauen, was immer das auch sein mochte. (Gerne würde ich manches, was ich einst in mich hinein geschaut habe, wieder hinaus schauen können; doch der Gedanke, daß der Vorgang des Sehens umkehrbar sein könne, war mir bisher fremd.)

So saßen wir in den Sesseln, ohne daß Zeit verging. Wohl rückten die Zeiger einer Uhr vor und die Sonne zog ihre Bahn und fing an sich zu neigen, doch es verging dabei keine Zeit. Der rote Dampf stieg in jedem Augenblick so auf, wie in dem voran gegangenen Augenblick, und es war nicht zu erwarten, daß im folgenden Augenblick der Dampf in anderer Weise aufsteigen würde. Die Augenblicke waren also nicht mehr unterscheidbar -: Sie verschmolzen zu einem einzigen Augenblick. So verhinderte der rote Dampf das Entstehen von Zeit – wie könnte da Zeit vergehen?

Einmal kam ein Frosch zwischen den offen stehenden Flügeln der Tür herein gehüpft. Er hüpfte in gerader Linie, bis er bewegungslos sitzen blieb. Nur das, an der Kehle erkennbare Auf und Ab der Atmung machte dann sichtbar, daß Leben in ihm war. Dann hüpfte er wieder in anderer Richtung ein Stück, verharrte wieder in jener vollkommenen Bewegungslosigkeit, hüpfte weiter und durchmaß so den Saal kreuz und quer. Mein Blick heftete sich an den Frosch wie sein Schatten und ruhte auf ihm, wenn er saß, und er folgte ihm, wenn er hüpfte, bis er durch die offene Tür verschwand.

Wir fuhren fort, in den Sesseln zu sitzen – ich schaute wieder dem rötlichen Dampf zu, und der Gelbe Joe schaute weiterhin aus sich heraus. Dann kam ein Krebs zur Tür herein. Nach Krebsart lief er schnell, seitwärts, mit aufgerichtetem Körper und hochgereckten, geöffneten Scheren. Auch er lief kreuz und quer, in geraden Bahnen durch den Saal. Anders als der Frosch änderete er seine Laufrichtung jedoch nur, wenn er auf eine Wand stieß – wie eine Billardkugel an der Bande. Ich wandte meinen Blick ab von dem rötlichen Dampf und ließ ihn dem Krebs folgen.

Den Gelben Joe, der zuvor die Anwesenheit des Frosches mit äußerster Gelassenheit, völlig gleichgültig hingenommen hatte, brachte der Auftritt des Krebses ganz aus der Fassung. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Er wußte vor Verlegenheit nicht wohin mit seinen Händen. Nach einer Weile – Zeit hatte wieder angefangen zu vergehen – stund er jäh auf und bedeutete mir, ihm in die inneren Gemächer zu folgen.

Wir gingen durch einen finsteren, verbrunsten Korridor und traten an dessen Ende in einen engen, spärlich beleuchteten Hof, in den überall grüne Schnüre herabhingen – wie mir zunächst schien. Ich blickte nach oben, um zu sehen von woher diese Schnüre kämen, und ich sah, daß es sich in Wirklichkeit um Blütenstengel handelte, die luftige, großblättrige, rosige Blüten in das Licht streckten, das sich zwischen den weit in den Hof kragenden Dachtraufen verfing. Die Blüten waren riesig und sie wirkten federleicht, wie sie sich hin und her wiegten, da oben, im Licht. Ich blickte nach unten und sah, wie das Kraut aus den Ritzen zwischen der Bepflasterung wuchs und in Bodennähe ärmliche Blätter bildete. Alle Kraft dieses Krauts schien in die langen Stengel zu fließen, um die fragilen Blüten in das Licht zu heben, von dem die sich nährten – oh, welch ein Leben, welch ein Dasein!

Der Gelbe Joe wartete an der Türe am andern Ende des Hofes mit Anzeichen von Ungeduld, während ich das seltsame Kraut betrachtete. Ich machte mich auf, doch bevor ich ihm durch die Türe folgte, hatte ich ein unbestimmtes Gefühl, daß mir irgend etwas Bedeutsames in dem Hof entgangen war. Ich wandte mich um, und nun sah ich, daß im Schatten an den vier Hofwänden entlang Frauen saßen, wie Topf-Pflanzen aufgereiht.

Der Gelbe Joe nahm mich am Arm, um mich zwischen, im Halbdunkel des Saales in den wir traten, schwer zu erkennendem, herumstehenden Gerümpel unbeschadet hindurch zu führen. Dann blieb er stehen und lies mich los. Ich hob meinen Blick auf vom gerümpelbedeckten Boden – da hing ein Gemälde.

Ich sah zunächst nur ein Ungefähr sich windender und rankenartig ineinandergreifender Formen. Doch als sich meine Augen an das fahle Licht gewöhnt hatten, konnte ich die Gegenstände des Bildes erkennen. Da waren einige über einem Tümpel aufsteigende Vögel. Die waren von gräulicher Farbe – wie schmutziges Weiß; sie hatten lange Hälse und Schnäbel, doch viel zu kleine Flügel, die wie gerupft aussahen und kaum geeignet schienen, die unförmigen, wie geblähten Körper in die Luft zu tragen. Aber die Vögel stiegen steil, in spiraliger Formation wie ein einziger Körper gewunden, auf über dem Tümpel. Und ihr Flug war ganz und gar glaubhaft – welch ein Maler, der solches vollbringen kann!

Der Tümpel, von dem die Vögel aufstiegen, hatte eine Farbe wie Milchkaffee, und seine Oberfläche war hell erleuchtet von einem gleißenden Licht. Die Umgebung des Tümpels war aber nicht beschienen von jenem Licht, sondern tief verschattet, sodaß man dort nur ein chaotisch wucherndes Geflecht unbestimmbar floralen Wachstums wahrnehmen konnte. Auf dem Tümpel bildeten sich kreisförmige Wellen, von den aufsteigenden Vögeln verursacht. Die Wellen-Kreise verbreiteten sich konzentrisch über die ganze Fläche des Tümpels, als wäre nur ein Vogel von dort aufgestiegen. Den Horizont bildete ein Wald, durch dessen Dickicht hier und dort schwaches Licht einer niedrig stehenden Sonne drang. Zwischen dem Wald und dem Ufer stieg ein Nebel auf, der von den Licht-Flecken durchleuchtet silbrig glänzte. Die Vögel flogen über die Wipfel des Waldes hinaus in einen tiefen, blauen, weiten Raum.

Ich versank in Betrachtung des Gemäldes, bis ich die Umgebung und den Gelben Joe vergessen hatte. Mein Blick verbreitete sich mit den konzentrischen Wellen auf dem Tümpel, folgte dem Vogelflug in die Tiefe des Raumes und kehrte zurück zum Ufer und dem undurchdringlichen Dickicht dort. Am Ufer angelangt gewahrte ich ein Kindlein, das ich zunächst nicht gesehen hatte. Wie konnte ich es nur übersehen haben – ist es doch direkt vor mir und schaut mich mit großen braunen Augen an.

Das Kindlein war natürlich nicht im Bild – ich selber war in das Bild geraten. Das Kindlein winkte mir, ihm zu folgen -: in die innersten Gemächer.

 

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aus „Bongs Stall“

Luftfahrt im Altertum

In „Stubenfliegenliebe“1, einer Anthologie von Levitations-Berichten aus dem chinesischen Altertum, aus unbestimmter Zeit und von ungewisser Autorenschaft, wird von den zwei kleinen Mädchen Sternschnuppe und Brausepulver berichtet, die vom Markt in dem kleinen Städtchen Lu Mu in ihr nahe gelegenens Dorf zurück­kehrten. Sternschnuppe, die ältere und kräftigere trug den Korb, gefüllt mit Enteneiern, Wachtel- und Gänse­eiern, auch einigen Singvögeleiern, außerdem einer Tüte Reis und einem Pfund Quallenleber, Reiswein und Brausepulver, denn Brausepulver hatte Namenstag.

Brausepulver, die zierliche, süße, tollte herum. Kreuz und quer des Weges hampelte sie herum, denn ihrer Energie war der Nachhauseweg zu kurz. Sie rannte hierhin und dorthin, blieb dann plötzlich mit dem Ausdruck großer Ent­schlossenheit in der Geste stehen und nahm denkmalsartig seltsam, komische Stellungen ein, über die Stern­schnuppe sehr lachen mußte.

Beide waren vergnügt, als auf halbem Weg ein mächtiger Wind aufkam. Noch bevor sie ihr Dorf erreichen konnten, wurde daraus ein tobender Taifun. Der kam einher mit einem schrillen Getöse, daß einem die Ohren klingelten. Äste und Bäume brachen; und manches flog waagrecht herum und hoch in den Himmel, was sich sonst – wenn überhaupt – nur fallend nach unten bewegte.

Sternschnuppe klammerte sich mit Händen und Füßen an einem am Wegrand stehenden Essigbaum fest, um sich und den Einkauf zu retten. Der Wind zerrte an ihr, daß alles an ihr vibrierte und zu flattern anfing. Der um ihre Schulter hängende Korb stand nun waagrecht nach hinten ab und wirkte wie ein Segel. Stern­schnuppes Haltung glich der eines an einem Ast hängenden Faultiers, doch um 90 Grad gedreht. Sie mußte alle ihre Kräfte zusammen­nehmen um nicht davongeweht zu werden.

Brausepulver dagegen wurde sogleich von den Böen erfaßt und in den Himmel hinaufgewirbelt. Sie versuchte den Ast eines Baumes zu erhaschen, doch vergebens. Bald war das panische Gewoge der Äste uner­reich­bar. Brause­pulver versuchte sich schwer zu machen, aber das half nichts.Sie schöpfte noch zweimal Hoffnung, als das Sausen und Brausen sie am Glockenturm und am Trommelturm vorbei blies, an einer der weit hinaus­kragenden drachen­förmigen Dachtraufen Halt zu finden, aber auch das mißlang.

Als nun alle Hoffnung, den Launen des Windes zu entkommen, dahin waren, entdeckte Brausepulver, daß es lustig war, sich dem Tumult hinzugeben. Ihre Glieder bewegten sich wie die eines Hampelmannes. Da war kein Oben und Unten mehr – kein rechts und links, nur ein lustiges, chaotisches Gewirbel, das keiner­lei Anstren­gung bedurfte. Es gab keine Gefahr dabei –: Alles woran man sich hätte stoßen können, blieb weit unten zurück.

Wei Wong, eine Tante von Brausepulver, sah diese zufällig, wie sie über das Dorf hinweg flog. Sie sagte später, Brausepulver sah dabei so vergnügt aus, als würde sie gerade den Mong Shou-Tanz während des Frühlings­festes aufführen.

Viele in der Gegend vermissen Brausepulver sehr –: Sie war so süß! Vielleicht schaut sie mal wieder vorbei.

Der chinesisch-amerikanische Forscher Bob Wo Mimg We Pu vertrat in seinem Buch „Formen und Wirkungen des Gravitations­verlusts“ die Ansicht, daß zu jener Zeit, durch eine seltsame stellare Konstellation2 bedingt, die lunare Dynamik in derart abnormer Weise gesteigert gewesen wäre, daß das Gravitationsfeld der Erde gestört und punktuell geradezu durchlöchert war. In diesen Gravitationslöchern – so Pu – sei das Fliegen keine Kunst gewesen, sondern eine lästige Wahrscheinlichkeit: Eine zu starke Bewegung eines Arms – etwa eines Wein­trinkers, der in seiner Begeisterung schwungvoll ausholend, seinem Trinkkumpan zuprostete, mußte bald seine Trink­gesell­schaft aus der Vogelperspektive sehen. Oder ein Fußballspieler, der nach dem Ball kickend, diesen verfehlte und wegen des fehlenden Widerstandes, seinem hochfliegenden Bein folgend, eine Auszeit nehmen mußte.

Pu sah eine Bestätigung seiner Theorie in einem Bericht eines gewissen Pong Dschang. Dort heißt es: Pu Wü (man beachte die Namensähnlichkeit), die gerade den Abwasch beendet hatte und den Wok im Schrank verstauen wollte, rutschte auf dem, von der Näße schlüpfrig gewordenen Boden aus, fiel und bemerkte, daß sie viel sanfter fiel als erwartet und der gefürchtete Aufschlag herabgemildert, aller gefahrvollen Wucht ledig nichts als ein leichtes Federn war, das sie wieder sanft in die Luft zurück warf und zum Fenster hinausschweben ließ, dem Wok nach, der bereits vor Pu in komisch gravitätischer Langsamkeit die Küche auf diesem Weg verlassen hatte.

Etwas äußerst Merkwürdiges muß damals in der Luft gelegen haben. Die Annahme Pus aber und seiner Gläubigen, jeder Mensch sei wie ein mit Helium gefüllter Luftballon herumgeflogen und konnte froh sein, wenn er nicht ganz und gar den Boden unter den Füßen verlor – diese Ansicht bezeichnetete Son Fei, Professor für Paläontologie und Aerodynamik, an der Universität von Beijing und Pus schärfster Krititker, als Wahnsinn.

In seinem Buch „Pionierzeit der chinesischen Aviatik“ schreibt er: Der Mensch besaß zu allen Zeiten im gleichen Maß die Fähigkeit zu fliegen.Daß er es tatsächlich nur in einem kurzen Zeitraum in einem eng umgrenzten Gebiet praktizierte, liegt daran, daß die Kenntnis des feinstofflichen Charakters des Universums erst erworben werden mußte, dann aber bald, aus Gründen die noch zu erforschen sein werden, verloren gegangen ist.

Die grobstoffliche Welt ist jedermann erkennbar und die durch sie verursachte Gravitation spürbar. Ohne die Gravitation der feinstofflichen Welt aber würde ein Himmelskörper wie unsere Erde sowie das ganze Universum unter der Last der eigenen Gravitation unweigerlich kollabieren.

Man kann sich die Wahrnehmung der grobstofflichen Welt wie einen Film, der auf eine Leinwand projiziert wird, vorstellen. Die feinstoffliche Welt verbirgt sich, diesem Bild entsprechend, hinter der Leinwand. Und um etwas von ihr wahrzunehmen, muß man die löchrigen Stellen der Leinwand aufsuchen.

Die Fähigkeit zu erwerben, sich die feinstofflichen Eigenschaften des Universums – oder die Gravitation des Himmels, wie unsere Ahnen sagten – zunutze zu machen, bedarf es mehr, als nur einen Blick hinter die grobstoffliche Wirklichkeit zu werfen. Sie verlangt eine unablässige Übung, wie die Beherrschung eines Musikinstruments.

Tatsächlich gab es auch damals nur wenige Menschen, die fliegen konnten, viele aber, die es um jeden Preis erlernen wollten. Es machte sich eine regelrechte Flughysterie breit. Fluglehrer traten auf – echte und falsche. Viele versuchten es auf eigene Faust.Und vor manchem Haus, unter einem hoch oben, weit geöffneten Fenster, sah man bäuchlings einen Toten liegen, das Kinn in die Erde gepflügt, mit zerschmetterten Gliedern, die Arme ausgebreitet, die Unterschenkel nach oben geklappt an die Hauswand gelehnt.

Viele Menschen sah man auch auf allen vieren herum robben: Sie hatten in ihrem wilden aber fruchtlosen Bestreben zu fliegen, das Gehen vernachlässigt und schließlich ganz verlernt, ohne auch nur ein einziges mal abgehoben zu sein.

An vielen unbewaldeten Hügeln sah man immer wieder Menschen herunterrennen und dabei mit den Armen auf und ab wedeln, um mit ins Gesicht geschriebener Enttäuschung, unten angekommen, sofort wieder den Hügel hinan zu steigen – zu einem neuen Versuch.

In den Zigzack-Bergen nahe dem Städtchen Lung lebte ein alter Mann namens Fe Ya.Der hatte ein Gesicht, wie ein zerknülltes Taschentuch. Seine Augenbrauen hingen seitlich lang herab, wie die spärlichen Barthaare am Kinn und in den Mundwinkeln. Er war selten zu hause, doch wenn, sah man ihn oft im Garten, in der Sonne sitzen, als hätte er sich selbst und alles um sich vergessen.

Zu ihm machten sich viele Menschen auf, um von ihm das Fliegen zu lernen. Ob er es selber konnte, – darüber gingen die Meinungen auseinander. Vor seinem Haus bildeten sich oft lange Menschen­schlangen von Flug­begieri­gen, die lange ausharrten. Immer wieder wurden die Angehörigen Fes gefragt, wann der zu sprechen sei, und immer bekamen sie dieselbe Antwort: Der sei auf einem Ausflug und wann er zurück käme, könne niemand wissen.

Einmal aber soll Fe Ya aus seinem Haus herausgetreten sein und zu der Menge wie folgt gesprochen haben: Was wartet ihr hier? – Wißt ihr nicht, daß alles Warten ein Warten auf den Tod ist? Niemals wird sich jemand vom Boden, auf dem er sitzt, erheben, der auf den Tod wartet!

Dann wieder lauft ihr herum wie aufgescheuchte Hühner. Seht euch die Hühner an: Sie flattern wie irre – und obwohl sie Flügel besitzen, können sie doch nicht fliegen. Sie haben es vor langer Zeit aufgegeben, weil es ihnen zu anstrengend war. Deshalb sind sie uns nützlich – mit ihren Eiern und als Brathähndln. Lernt von den Hühnern: Es gibt kein Zurücklehnen. Wer sich zurücklehnen will, der wird nützlich für andere und wird gescheucht.

Laßt mich in Ruhe, und geht heim, ihr Hühnerseelen! Vielleicht könnt ihr dort was Flugfähiges ausbrüten – ich glaube aber eher nicht. Haut ab!

Heute früh, gerade als die Sonne hervorkam, klopfte es stark und unaufhörlich mit schnellem Rhythmus an mein Haus – nicht an die Eingangstür, nein hinten, an der Veranda.Mir ahnte gleich, daß das ein Specht war und eilte hinaus, um ihn zu vertreiben. Auf der Veranda sah ich dann, daß es ein Specht-Paar war – beide menschen­groß und wunderschön.Ihr blaues und weißes Gefieder war von einem bunten Schimmern durchsetzt, in Farben, die ich noch nie gesehen habe. Ich war verzückt. Sie hörten aber nicht auf, mit ihren mächtigen, spitzen Schnäbeln in meine Hauswand zu hacken. Da klatsche ich in die Hände und machte zischende Geräusche um sie zu vertreiben. Sie flogen auch gleich weg – doch nicht wie ein aufgescheuchter Vogel flüchtet, sondern das Aststück auf dem sie saßen, flog mit ihnen davon. Die beiden Spechte saßen ohne Flügelschlag, wie aus poliertem Marmelstein auf dem Ast und entschwanden in den von der Morgensonne rosig beleuchteten Wolkenschwaden.

Ich sah ihnen nach und wußte, daß ich den größten Fehler meines Lebens begangen habe – die Spechte würden nie wieder kommen, und eine große Traurigkeit überkam mich.

 

1Der Titel Stubenfliegenliebe kann im Chinesischen auch „zu Hause bleiben“ oder
„Geschlechtsverkehr, in einem Zimmer ausgeübt“, bedeuten
2Das Sternbild des Adlers hätte sich im Haus des Drachen befunden und
Jupiter seine Bahn mehrmals quer hineingezogen.